Mittwoch, 1. September 2010

Die Ruferin

Das Haus Nummer 38 von Otto Wagner an der linken Wienzeile kennt wohl jeder, der schon mal hier war. Man bewundert die Fassade, ein prachtvolles Beispiel des Jugendstils in Wien. Erst vor einigen Jahren restauriert, glänzen die goldenen Ornamente und locken schon von weitem, sie näher zu betrachten.
Dem Zoom sei Dank, meine Augen sind ja für die Ferne nicht die Besten, zieht mich allerdings die Bronzefigur ganz oben auf dem Sims in ihren Bann.


Es steht und lehnt und stemmt ja im Wien der Gründerzeit und darüber hinaus ja so manche größere und kleinere Figur an Fassaden und Toreingängen. Man ist da einiges gewöhnt.

Diese riesige Büste allerdings hat für mich etwas ganz besonderes.
Die Ruferin berührt mich sehr. Nicht nur, weil sie so ausdrucksstark garbeitet ist, das sieht man auch anderswo. Aber sie wirft viele Fragen auf. Fragen zur Art und Weise, wie wir gewöhnlich kommunizieren, wie etwas gesagt oder wie etwas verstanden wird. Sollte das vom Künstler so gemeint gewesen sein, bei mir ist seine Botschaft angekommen.


Allerdings regen sich kleine Zweifel:

Gegenüber zieht sich der Naschmarkt entlang. Vielleicht stand die Ruferin zuerst nur so entspannt auf dem Dachvorsprung und musste die ganze Zeit mitansehen, wie da unter ihr Tag für Tag die Kohlköpfe und Orangen weggeschleppt wurden. An sie dachte natürlich keiner. Da beschloss sie, einmal für eine anständige Leberkässemmel zu kämpfen. Aber, wie man sieht, bis zum heutigen Tag vergebens. So schön und doch so wenig erfolgreich.

Oder sie rief aus Leibeskräften allen, die bei der Spinnerin am Kreuz über den Wienerberg kamen zu, sich doch zu überlegen, ob es vernünftig wäre, in so eine dreckige Stadt zu kommen. Na, wenigstens das hat sich ja geändert, sieht man von einigen Ecken ab. Leider kann die Ruferin nicht hinüber zur Secession und weiter zur Staatoper sehen, das würde sie ja etwas beruhigen. Irgendwer müßte ihr das einmal näherbringen.

Oder sie hatte gerade Shampoo über ihr schönes langes Haar verteilt und plötzlich treibt der Wind die Wolken weg und sie ruft ihm zu, er möge doch noch ein wenig Regen vorbeischicken, damit ihr die Soße nicht in die Augen läuft. Da muss ich allerdings sagen, sie könnte sich leicht mit dem Tuch, das ihr über die Schultern hängt, helfen. 

Was ein kleiner Perspektivenwechsel alles bewirken könnte!


2 Kommentare:

  1. Faszinierend, dass sie dir aufgefallen ist! Ich kenne das Haus natürlich auch, aber die Lady kannte ich bisher nicht. Allerdings: Wenn ich drei Schrauben oder Riesennägel durch die Brust hätte, tät ich auch laut schreien, dass mir wer das Zeug herausziehen soll. Der Straßenlärm verhindert allerdings wohl, dass Rettung naht!
    Alles Liebe, trau.mau

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  2. Das ist in der Tat unfassbar, liebe Traude! Hab ich nur nicht erwähnt, weil mein blog "kleine freude" heißt... der Fokus hält mich über Wasser, wenn Du verstehst, was ich meine! Danke für deinen Kommentar, du bist die erste mir "Unbekannte", und das ist echt aufregend in dieser für mich ziemlich neuen Welt!

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